Jes 6,1-8 / Lk 5,1-11
Baum und Landstreicher (nach einer Idee von Wolfgang Raible)
Wenn ich so beeindruckende Visionen gehabt hätte wie Jesaja, dann wäre ich vielleicht auch Prophet geworden und hätte gesagt: „Hier bin ich sende mich!“ Wenn mich Jesus mit einem Wunder überzeugt und so direkt angesprochen hätte wie Petrus, dann wäre ich ihm wohl auch bedingungslos nachgefolgt. Zwei spektakuläre Berufungsgeschichten in den Texten zum 5. Sonntag im Jahreskreis am 6. Februar: Jesaja sieht die Herrlichkeit Gottes, hört seine Stimme und übernimmt daraufhin das Amt des Propheten. Petrus erlebt hautnah die unwiderstehliche Kraft Jesu und lässt sich daraufhin die Aufgabe des Menschenfischers übertragen.
Und wir? Wie erkennen wir ohne eine solche außergewöhnliche Erfahrung, was unsere Lebensaufgabe ist? Wie entdecken wir ohne einen solchen Eingriff Gottes unsere Berufung? Wie erfahren wir ohne eine solche „wunderbare“ Begegnung, was Jesus mit uns vorhat?
Was heißt Nachfolge, was heißt Berufung heute – für Sie, für mich?
Eine kleine, ganz unspektakuläre Geschichte könnte uns bei der Beantwortung der Fragen helfen: „Das stehst du nun“, sagte der Landstreicher zum Baum, „du bist zwar stark und groß, aber was hast du schon vom Leben? Du kommst nirgendwo hin, kennst den Fluss nicht und die Dörfer hinter dem Berg. Immer an derselben Stelle – du kannst einem leidtun!“ Er packt sein Bündel und geht los.
„Da gehst du nun“, sagte der Baum. „Immer bist du unterwegs und hast keinen Platz an den du gehörst. Du kannst einem leidtun!“ Der Land-streicher bleibt stehen. „Meinst du wirklich, was du sagst? – Ich gehe in die Welt, Tag für Tag, ich kenne die Menschen, die Häuser, die Städte, …“ „Zu mir kommt die Welt“, sagt der Baum, „der Wind und der Regen, die Eichhörnchen und die Vögel. Und in der Nacht setzt sich der Mond auf meine Zweige.“ – „Ja“, sagt der Landstreicher; „aber das Gefühl zu gehen – Schritt für Schritt.“ „Mag schon sein“, sagt der Baum, „aber das Gefühl zu bleiben – Tag und Nacht.“
„Wurzeln zu haben“, sagt der Landstreicher, „das muss ein tolles Gefühl sein!“ „Ja“, sagt der Baum, „ganz ruhig und fest ist es. Und wie lebt man mit den Füßen?“ „Ganz leicht“, sagt der Landstreicher, „flüchtig und schnell!“ „Wenn wir tauschen könnten“, sagt der Baum. „Für eine Weile.“„Ja“, sagt der Landstreicher, „das wäre schön.“ „Lass uns Freunde sein“, sagt der Baum. Der Landstreicher nickt und sieht ihn an. „Ich werde wiederkommen“, verspricht er, „und ich werde dir vom Gehen erzählen.“ – „Und ich“, sagt der Baum, „erzähle dir dann vom Bleiben.“
Baum und Landstreicher – diese Symbole stehen für die beiden Pole unserer christlichen Berufung: bleiben und gehen, verwurzelt sein und beweglich bleiben, im Glauben eine Heimat haben und mit dem Evangelium unterwegs sein. Und wo zwei Pole sind, das wissen wir aus der Elektrotechnik, da entsteht bekanntlich Spannung. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und mir ein spannendes, ein interessantes Leben in der Nachfolge Jesu.
Kommen Sie gut und gesund durch die Zeit.
Ihr
Joachim Gresch